Texte und Impulse – 2025


„Sei ein Mensch“

Marcell Reif, der Sohn eines überlebenden Holocaustopfers, hielt am 31. Januar 2024 eine bewegende Rede im dt. Bundestag. Darin zitierte er einen kurzen Satz, den ihm sein Vater mit auf den Weg gegeben hatte: „Sei ein Mensch“.
Es ist eine der schönsten Auszeichnungen für das Leben eines Menschen, wenn wir von ihm sagen können: „Er/Sie ist bzw. war ein Mensch.“

Wie ein roter Faden begleitet uns die Aufforderung zum Menschsein und zur Menschwerdung auf dem spirituellen Weg.
Dieser Aufforderung zu folgen ist eine der wichtigsten Aufgaben für unsere Zeit, denn das „Mensch-sein“, wenn es gelebt wird, ist die Antwort auf die größten Probleme in unserer Zeit.
Doch was bedeutet es konkret Mensch zu sein und Mensch zu werden? Es gibt keine allgemein verbindliche Definition und auch keine eindeutige Wegbeschreibung zum Menschsein. Dies ist eine Herausforderung, der sich jeder von uns zu stellen hat. Jeder realisiert das Menschsein auf seine ureigene und individuelle Weise. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, Werte, die alle Menschen auf diesem Planeten verbinden: im Frieden leben, lieben und geliebt werden, Güter gerecht teilen, Sehnsucht und Suche nach einem größeren Leben ….

Wer sich nicht sicher ist, was das Menschsein für ihn konkret bedeutet, der könnte darauf achten, was sein Menschsein behindert. Wir bemerken und spüren ziemlich genau, wenn wir etwas denken, sagen oder tun, was unserem Menschsein zuwiderläuft.

Einen wichtigen Stellenwert im Prozess der Menschwerdung haben unsere Gedanken und die Art und Weise, wie wir mit den Gedanken umgehen. Die Gedanken spiegeln, was uns wichtig ist und das, was uns wichtig ist, gibt dem Leben eine Ausrichtung. Es bestimmt alles: wie und womit wir unsere Zeit verbringen, womit wir uns beschäftigen, mit welchen Menschen wir uns treffen, welche Bücher wir lesen, was wir uns im Fernsehen anschauen und wie wir uns im Internet im Bezug auf die sozialen Medien verhalten.

Ein alter Weisheitsspruch lautet:
Achte auf Deine Gedanken,
denn sie werden Worte.
Achte auf Deine Worte,
denn sie werden Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen,
denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten,
denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter,
denn er wird dein Schicksal.

Und der antike Philosoph Epiktet sagt: „Nicht die Ereignisse stören unseren Geist. Es ist unsere Bewertung der Ereignisse.“ Dies bedeutet auch: Nicht das, was wir erleben, macht uns kaputt. Es sind unsere Gedanken darüber, was wir erleben, es sind unsere Urteile und Wertungen.

Aus dem Gesagten geht hervor, dass unser Mensch-Sein nicht mit der Geburt abgeschlossen ist, sondern ein Werden ist. Es entwickelt sich in einem Prozess, der im Erwachen zum wahren Menschsein mündet. Die Aufforderung „Sei ein Mensch“ und die Vollendung unseres Menschseins verbindet in einem großen Bogen das, was wir zu Weihnachten und Ostern feiern.
Weihnachten als Fest der Geburt von Jesus Christus wird auch Fest der Menschwerdung genannt. Ostern, das Fest der Auferstehung können wir Fest des Erwachens nennen. Fest des Erwachens zu einem neuen Menschsein, Fest der Vollendung unserer Geburt. Denn, wie Willigis Jäger zu sagen pflegte: „Jesu Tod ist auch unser Tod, seine Auferstehung ist auch unsere Auferstehung.“
Damit ist seine Menschwerdung auch unsere Menschwerdung und sein Menschsein ist auch unser Menschsein.

Jan Šedivý



Fasten

In den Wochen vor Ostern spielt für viele Menschen das Fasten eine wichtige Rolle. Das Wort Fasten geht auf das mittelhochdeutsche „vasten“ zurück und hat mit unserem Adjektiv „fest“ oder mit der Wortverbindung „fest sein“ zu tun. Das englische Verb „fasten“ geht in dieselbe Richtung und bedeutet „fest machen“ oder „befestigen“.

In der Fastenzeit geht es sozusagen um eine neue Festigkeit im Leben. Wir üben eine neue Haltung ein, versuchen unser Leben neu auszurichten, auf einer neuen Basis zu befestigen. Wir tun das, indem wir auf etwas verzichten, das uns normalerweise sehr wichtig ist. Das heißt, wir leben enthaltsamer. Das kann das Essen betreffen, aber auch Alkohol, Rauchen, Süßigkeiten, Internet, Fernsehen usw. Fasten kann die Augen öffnen für das, was im Leben wirklich zählt und wichtig ist, aber auch für das, was verzichtbar ist und manchmal vielleicht sogar schädlich. Zeiten der Enthaltsamkeit führen zu einer besseren Selbstwahrnehmung und Leichtigkeit und geben Kraft, sich von ungesunden Gewohnheiten zu befreien.

Unsere Praxis der Kontemplation ist eine Art Fasten. Wir nehmen wahr, was sich in uns abspielt. Das ständige Loslassen hilft, dass unser Ego und seine Aktivitäten zurücktreten und wir uns der Leere und der Stille stärker überlassen können. Jesus ging für 40 Tage in die Wüste, um zu fasten. Dabei hat er den Hunger seines Ego nach Ansehen und Macht erfahren und immer wieder das Lassen praktiziert. Er kam gestärkt aus der Stille zurück, und er wusste fortan nicht nur um die Quelle des Lebens (in seinem Inneren), sondern lebte auch aus ihr. Er hatte erfahren, dass er und die Quelle des Lebens eins sind.

In unserer Übung lassen wir unser Ich in diese Quelle sinken. Das erfordert neben Vertrauen auch Konzentration und Treue. Ohne Konzentration und Treue bleibt man irgendwann stehen und verfällt der naturgemäßen Neigung des Ego zu Zerstreuung und Verirrung in Bildern und Gedanken.

Am Ende wird ein Fasten belohnt. Der Körper erholt sich und schöpft neue Energie; im Geist wachsen Klarheit, Dankbarkeit und Mitgefühl und viele weitere Kräfte, die unser Leben ordnen und unseren Umgang miteinander prägen. Markenzeichen für das Erwachen des neuen Lebens ist das Osterei. Es steht für die Überwindung von innerer Verhärtung, für das Ausbrechen aus Unfreiheit und für alles, was unser Leben nährt und stärkt.

Möge unser äußeres wie unser inneres Fasten dazu beitragen, dass wir Erbarmende werden und eine Gesellschaft mitgestalten, in der alle in Frieden und Freude leben können. Uns allen ein (immer wieder) frohes Fasten und ein frohes Osterfest.

Stefan Eideloth



Die helle und die dunkle Seite des Lebens

Wenn wir unser Leben planen, so haben wir vor allem das Gelingen im Blick, also Erfolg, Lebensfreude, Glück. Persönliches Scheitern und Leid gehören nicht dazu. Dennoch gehört auch diese dunkle Seite zum Leben und ist auf lange Sicht nicht zu vermeiden.
Ein wesentliches Anliegen aller Religionen ist es, eine Hilfestellung für den Umgang mit dem Leid zu geben. So versucht der Hinduismus das Leid durch asketische Übungen und entsprechende Lebensweise zu überwinden.
Für den Buddhismus ist das Leid kein Wesensbestandteil der wahren Wirklichkeit und kann deshalb beseitigt werden. Das Christentum verleiht dem Leid einen Sinn, indem es im Leiden eine Teilhabe am Leiden Christi sieht (Raimon Panikkar). Der Teilhabe am Leiden folgt die Teilhabe an der Auferstehung: ein neues und größeres Leben.

Der Versuch, dem Leid etwas Positives abzugewinnen führt und führte vor allem in der Vergangenheit gelegentlich dazu, dass das Leid verherrlicht wurde. Doch Leid bleibt Leid und es ist immer ein Angriff auf das Leben. Es gibt keine schnellen oder salbungsvollen Antworten auf das Leid. Wir stehen ihm oft hilflos und sprachlos gegenüber

Dennoch kann das Leid auch wertvolle Erfahrungen bergen.
An der Wand einer alten Kartause steht geschrieben: „Optima philosophia meditatio mortis – Die beste Lebens-Philosophie ist die Betrachtung des Todes.“ Indem wir den Tod anschauen, erkennen wir, was Leben ist.
Dogen Zenji, der Begründer der Soto-Zenrichtung ließ über den Eingang zum Tempel eine Tafel befestigen, auf der stand, dass niemand dort eintreten soll, der nicht die Frage nach Tod und Leben lösen will.

In der Kirche St. Sabina in Rom befindet sich die älteste realistische Kreuzigungsdarstellung der Christenheit. Die Kreuzigung ist dargestellt als Relief einer Kirchentür aus dem Jahr 432. Das Besondere daran ist nicht der künstlerische Wert, sondern die Tatsache, dass Christen über 400 Jahre gebraucht haben, bis sie es wagten, den mit dem Tod ringenden Christus abzubilden. In allen früheren Darstellungen scheint Jesus unberührt zu bleiben vom Leid.
Die Juden glaubten, dass ein Mensch, der leidet, irgendwie selber schuld daran ist. Unglück, Krankheit, und anderes Leid wurde als Strafe für die Sünden verstanden.
Für die Griechen war das höchste Ziel menschlichen Lebens die Weisheit. Sie meinten, dass ein Weiser, der dieses Ziel erreicht hat, auch das Leid zu vermeiden weiß, sonst ist er nicht weise. Ein Leidender oder gar ein am Kreuz hingerichteter wäre nicht verehrungswürdig. Deshalb haben sie sich über die Darstellung des Gekreuzigten lustig gemacht. Dies bezeugen erhaltene Spottbilder aus dieser Zeit.
Der antike Mensch musste umdenken lernen, bis er in der Lage war, im Kreuzestod Jesu ein Zeichen des Heils zu sehen.

Die Lebensgeschichte des Jesus von Nazareth war nicht so, dass er das Leid gesucht hätte. Am Ölberg, kurz vor seiner Festnahme, betet er: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Mt 26,39) Er hat das Leid nicht gesucht, ist vor ihm aber auch nicht weggelaufen. Er ist im Vertrauen den Weg gegangen, den er als den seinen erkannt hat.
Ähnlich wie für Jesus, so gilt auch für uns: mag eine Situation noch so trostlos, sinnlos, verzweifelt sein, auch hier ist Gott gegenwärtig.
Der Weg, den das Christentum zeichnet, geht nicht am Leid vorbei, sondern durch das Leid hindurch. Dies wird in den alten Darstellungen deutlich, in denen Christus Licht in die Dunkelheit hineinbringt und sie erleuchtet. Für uns bedeutet das: Was immer auch geschieht, wir müssen daran nicht zerbrechen, sondern wir können daran wachsen und gestärkt wieder herauskommen. Das letzte Wort hat das Leben.

Ich wünsche Euch allen gesegnete Tage der Karwoche und ein freudvolles Osterfest.
Möge das neue Leben, das wir in diesen Tagen feiern, Licht in die Dunkelheiten unserer Welt bringen.

Jan Šedivý